Kultur gegen Corona

Kulissen, die die Welt bedeuten

„Störgeräusche zulassen und sich selbst ins Wort fallen“ – Rainer Merkel I

Rainer Merkel
wurde 1964 in Köln geboren, studierte Psychologie sowie Kunstgeschichte und lebt in Berlin. Häufig recherchiert er für Buch- und Zeitungsprojekte im Ausland – u.a. in Liberia, im Libanon und in Israel. Zwischen 2008 und 2009 arbeitete er für die humanitäre Hilfsorganisation Cap Anamur in der einzigen psychiatrischen Klinik Liberias. Neben seinen Romanen – wie Lichtjahre entfernt, der 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand – veröffentlicht Merkel auch Reportagen; beispielsweise über die Ebola-Epidemie in Liberia, für die er vor Ort bei einer lokalen NGO recherchierte. 2013 erhielt er den Erich-Fried-Preis.
Seine Bücher


„Eine engagierte Literatur gibt es nicht.“ – sagte Peter Handke. Dabei kann Literatur unsere Gegenwart in Sprache hüllen sowie manchen Mantel des Schweigens lüften. Sie kann Welten erzählen, spiegeln, hinterfragen sowie neu denken und diskutieren. Dass dieser gesellschaftliche Anspruch nicht etwa mit einer moralischen Überlegenheit einhergeht, zeigen die Texte von Rainer Merkel. Mit ihm habe ich über ethische Chancen und Grenzen beim Schreibprozess sowie über die Verortung von Literatur zwischen Fakt und Fiktion gesprochen.

Rainer Merkel I
Autor: Rainer Merkel (2012). Foto: Gaby Gerster, www.gaby-gerster.de

Ein Gespräch mit Rainer Merkel – Teil I

Ihr literarisches Werk ist formal vielfältig – Romane, berichtende Texte und Reportagen. Welche Erzählformen halten Sie für die Gegenwart, um beispielsweise aus der ‚Erregungskultur‘ herauszustechen, für adäquat? Welches Potenzial schreiben sie reportageartigen sowie klassisch fiktionalen Genres wie dem Roman beim Erzählen einer krisenhaften Gegenwart zu?

Rainer Merkel: Mit einer Reportage kann man schnell sein und auf ein aktuelles Thema direkt Bezug nehmen. Im Vorfeld zu Go Ebola Go fand ich die Berichterstattung über die Ebola-Krise absolut nicht in Ordnung. Diese hatte für mich fast etwas Pornografisches: Die Menschen wurden auf ihren Opfer- und Krankheitsstatus reduziert; die Berichterstattung war fokussiert auf die Heldentaten der internationalen Gemeinschaft, während viel weniger berücksichtigt wurde, was auf lokaler Ebene geleistet wird. Deshalb wollte ich mir selbst vor Ort ein Bild verschaffen. Ich war vorher schon einige Male in Liberia und eine Reportage war das beste Mittel. Dabei war für mich aber wichtig, dass meine Subjektposition mitthematisiert wird sowie dass der Text möglichst transparent die Methoden der Recherche offenlegt.

Erinnerung als Brennglas

Wenn man einen Roman schreibt, nimmt man eine andere Position und andere Haltungen ein. Es sind zwei Formen, die eigentlich relativ weit voneinander entfernt sind. Für eine Reportage ist es besser, wenn man sie unmittelbar nach dem Erleben aufschreibt. Denn wenn man zu lange wartet, kann man zwar noch auf die Notizen zurückgreifen, aber der Bezug geht etwas verloren. Wenn ich jetzt beispielsweise über die schwedische Journalistin schreiben würde, mit der ich in Liberia für die Arbeit an Go Ebola Go unterwegs war, würde das Thema Angst noch viel mehr in den Vordergrund treten. Als ich zum Beispiel ein Taschentuch aus ihrem Rucksack holen musste, weil sie keine Hand mehr frei hatte, da sie das an einer langen Teleskopstange befestigte Mikrofon einem Interviewpartner ins Gesicht hielt. Ich erinnere mich an die Panik, dass wir irgendetwas falsch machen, irgendetwas anfassen könnten. Ich weiß nicht mehr, ob diese Szene im Text eine große Rolle gespielt hat, aber wenn ich das aus der Erinnerung heraus noch mal aufschreiben würde, würde dies mehr in den Vordergrund rücken.

Rainer Merkel I

Die Erinnerung vergrößert und verzerrt Dinge, was für das Schreiben von fiktiven Texten hilfreich ist – aber nicht für eine Reportage, die dann leicht aus der Balance gerät. Beim Roman geht es eher darum, Lücken und Leerstellen auszufüllen, die dadurch entstanden sind, dass die Erinnerung unser Denken manipuliert.

Texte als erzählte Wirklichkeit

Ist dann eine bestimmte Erzählform angemessener, um gegenwärtige Krisenerfahrungen zu beschreiben?

Rainer Merkel: Das würde ich nicht sagen. Es kann sein, dass ein Roman, der ein bestimmtes Krisenereignis thematisiert, besser gelingt als die Reportage. Bei der Reportage fehlt manchmal auch der Abstand. Dann ist man zu nah dran und es wird unmittelbarer und emotionaler. Gleichzeitig kann sich dabei eine gewisse Blindheit für größere Zusammenhänge einstellen und man verliert sich schnell in Mikro-Wahrnehmungen.

Welchen Eigenwert hat das Ästhetische, wenn sich fiktionales und faktuales Erzählen überschneiden? Welche Rolle spielt die Fiktionalität?

Rainer Merkel: Das ist für mich deutlich voneinander getrennt. Zwischen einem Roman und einer Reportage liegen Welten – bezogen auf den Schreibprozess. Bei Stadt ohne Gott zum Beispiel habe ich einen Text verarbeitet, den ich ein paar Jahre zuvor für das Kursbuch über das schiitische Aschura-Ritual geschrieben hatte.

Rainer Merkel I

Jede Erzählung ist Konstruktion

Ich hatte die Idee, im Roman eine Figur an diesem Aschurafest teilnehmen zu lassen. Es war für mich ungewohnt, einen schon fertigen Text noch mal anzusehen, um Teile daraus für einen Roman zu verwenden; das war für mich beinahe eine Kannibalisierung, da ich versucht habe, diesen Text wieder zu ‚öffnen‘ und Dialoge zu schreiben, die nun rein fiktiv waren. Das war ziemlich kompliziert und ich würde es nicht noch einmal machen, weil beide Textformen nicht unbedingt kompatibel sind. Einen abgeschlossenen Text noch mal zu ‚reanimieren‘, ist heikel.

Ich erinnere mich, dass ich hierfür vor Ort Notizen gemacht hatte, weil die Verwendung eines Aufnahmegeräts schwierig war. Wenn man sich bei einem Gespräch nur Notizen macht, kann die Wiedergabe des Dialogs sowieso nie hundertprozentig sein. Am Ende ist das, was man schreibt, immer eine Konstruktion, weil man eine Auswahl trifft und immer nur Teile des Gesprächs wiedergibt. Deswegen ist es mir wichtig, das im Text zu ‚markieren‘, sodass Lesende merken, dass es sich hierbei um eine subjektive Wahrnehmung handelt. Damit wird der Objektivitätsanspruch des Journalismus‘ infrage gestellt, aber auch klar gemacht, dass eine Reportage auch eine Erzählung ist – und zwar eine ‚erzählte Wirklichkeit‘ und kein genaues Abbild der Wirklichkeit.

Literatur als Annäherung an die Wirklichkeit

Als ich beispielsweise im Rahmen des liberianischen Wahlkampfs 2011 in Liberia zusammen mit einem Reuter-Journalisten ein Gespräch mit dem ehemaligen Rebellenführer Prince Johnson geführt habe, hat uns dessen Mitarbeiter am Ende einen Umschlag gegeben. Da hatten wir unsere Notizbücher natürlich schon längst weggesteckt; wir waren schon im Modus der Verabschiedung. Es war aber trotzdem ein wichtiger Moment. Denn in dem Umschlag befand sich Geld. Das war in Liberia damals nicht ungewöhnlich, da die lokalen Journalist:innen so wenig verdienen, dass sie sich oft nicht einmal die Fahrtkosten leisten können.

Die spannende Frage ist aber natürlich, was der Mitarbeiter genau gesagt hat. Vielleicht: „Hier habt ihr einen Umschlag mit Fahrgeld.“ Oder: „Hier, das ist ein Umschlag für euch“. Das macht einen großen Unterschied. Wenn man diese Szene wiedergibt, muss dies möglichst so passieren, wie es vermutlich gedacht war – dass es nämlich kein Bestechungsversuch war, sondern ein in Liberia gar nicht ungewöhnlicher Vorgang. Aber so genau kann man es eben doch nicht sicher sagen, weil wir das Geld nicht angenommen haben und also nicht wussten, wie hoch der Betrag war: lediglich Fahrgeld oder doch ein bisschen mehr?

Allein aus Solidarität zu den anderen liberianischen Journalist:innen, hätten wir es vielleicht aber annehmen sollen. Ein Journalist, den ich kenne und der für The Democrat – eine der damals bekanntesten Zeitungen in Liberia – geschrieben hat, musste diese Arbeit eigentlich wie ein Hobby betreiben und sein Geld als Zimmermann und Schreiner verdienen. Er hat Regale entworfen, Dächer repariert und naja, auch Särge gebaut, wenn es notwendig war.

Literatur soll irritieren

Wie verstehen Sie das Verhältnis von Engagement und Literatur? Kann Engagement der Literatur im Weg stehen, beispielsweise wenn der Text zum Instrument einer Botschaft wird?

Rainer Merkel: Auf der literarischen Seite ist die Engagement-Frage auch eine Frage danach, welche Perspektive man einnimmt. Bei Das Jahr der Wunder ging es um eine Agentur in der New Economy Ende der 90er Jahre. Aber es hat sehr lange gedauert, bis ich eine Idee entwickelt hatte, welche Funktion der Text für mich haben könnte. Ob es auch eine politische Ebene gibt und ob es vielleicht darum gehen könnte, aufzuzeigen, wie in den neoliberalen Arbeitsstrukturen externer Druck internalisiert wird; wie sich das Individuum selbst hierarchisiert, um externen Ansprüchen besser gerecht zu werden. Das hat sich erst im Schreibprozess herauskristallisiert und kann nicht auf dem Reißbrett geplant werden. Wie die Hauptfigur auf diese Selbstausbeutungseuphorie in der New Economy reagiert, wird im Text nicht bewertet; es bleibt im Raum stehen, sodass man sich als Leser:in eine eigene Meinung bilden kann.

Rainer Merkel I

Emanzipation vom Engagement

Bei Bo war das ähnlich. Da ging es zunächst auch nicht direkt um die NGO-Thematik. Ausgangspunkt war eine Geschichte über einen blinden liberianischen Jungen. Als dann eine andere Perspektive dazu kam, nämlich die von Benjamin, der seinen Vater in Liberia besucht, änderte sich auch das Thema. Es ging dann zudem um die Frage, was Benjamin aus der Erfahrung mit seinem liberianischen Freund lernt und ob ihn das auch verändert. Solche Sachen laufen bei der Recherche mit; was aber nachher im Text davon übrig bleibt, weiß man vorher oft nicht. Die Figuren emanzipieren sich dabei von solchen ‚Engagement-Gedanken‘. Sie nehmen als Figuren keine Rücksicht darauf, was sich der:die Autor:in am Anfang überlegt hat. Unterhaltungsliteratur ist demnach die ‚engagierteste‘ Literatur überhaupt: Ganz viele Autor:innen in diesem Bereich haben den Anspruch, ganz explizit zu einem bestimmten Thema zu schreiben und die Literatur ist für sie dann tatsächlich ein Instrument. Bei so einem Ansatz müssen die Figuren ‚mitmachen‘. Sie müssen sich unterordnen. Sie sind die Erfüllungsgehilfen von Plot und Botschaft. Als Leser:in bekommt man das oft nicht mit, weil man sich mit den Figuren identifiziert.

Intuitive Literatur untersagt Engagementsabsicht

Ich finde es aber interessanter, wenn die Figuren eigenständiger und weniger berechenbar sind. Dann entsteht aus den Figureninteraktionen und Erzählbewegungen eine Komplexität, die man als Autor:in selbst nicht mehr kontrollieren und nur noch intuitiv steuern kann. Trotzdem stellen Texte auch immer eine Zurichtung der Wirklichkeit da. Sie können mitunter ‚totalitäre Züge‘ annehmen, wenn das erzeugte System zu geschlossen ist. Deswegen muss man Störgeräusche zulassen und sich selbst als Meta-Instanz immer wieder ins Wort fallen. Allein schon deswegen verbietet sich der Gestus des Engagements, der Anspruch moralischer Überlegenheit. Denn wenn die Figuren nur das tun, was man sich für sie ausgedacht hat, dann fehlen die Irritation und das Staunen, das gute Literatur für mich immer ausmacht.

Fortsetzung folgt …

Das Interview gibt es auch auf schauinsblau.de

»Das melancholische Mädchen«
I. Der Schluss zuerst

Titel: »Das melancholische Mädchen«
Schauspiel: Marie Rathscheck
Drehbuch & Regie: Susanne Heinrich
Produktion: Jana Kreissl
Kamera: Agnesh Pakodzi
Texte & Trailer


Die letzte Szene spiegelt in nuce den gesamten Film wider. Der Eindruck, der dabei entsteht, ist pure Ambivalenz! Die Szene irritiert und fasziniert. Das bleibt deshalb auch in meinem Text nicht unbemerkt.

Mädchen
Bild im Bild: Die Anfangsszene zeigt denselben Hintergrund wie die Schlussszene. Foto: SALZGEBER

In der letzten Einstellung läuft das melancholische Mädchen essend von rechts in die Mitte des Bildschirms. Ihre Schritte werden tänzelnder, mal macht sie sich klein, immer ist sie irgendwie in Bewegung und verdrückt ein Kugeleis.

Die Szenerie wird von Möwenrufen eingeleitet, die von Ambient-Techno-Synthies untermalt werden. Im Vordergrund hebt sich die Laufende ab, sodass auch die Palme der Hintergrundtapete irgendwann mitschwingt.

Eine Hymne auf die Gesellschaft“?

Das Bild wird zunehmend bunt, bemustert, alles bewegt sich, Percussion und Big Band mischen sich in die Klangkulisse, der Hintergrund, auf dem sich Kokosnussmuster in Orange abzeichnen, verwischt und Diskolichteffekte bereiten ein Bild vor, das sie durchbrechen: Hinter- und Vordergrund werden wechselseitig transparent und verschieben sich, sodass die Sicht teils an die eines Betrunkenen oder Kurzsichtigen erinnert. Das Mädchen wird so zu tausend essenden Versionen von sich – wie ein pastellener Schatten ihrer Bewegungen.

Alles bewegt sich, auch die Pixel beginnen, sich zu drehen, die Farbe zu wechseln und zu kunstförmig arrangierten ‚Ameisenhaufen’ zu werden.

Das Mädchen läuft vor dem Pixelspektakel weiter und irgendwann, wenn melancholische Mädchen eben weiterziehen, aus dem linken Bildschirmrand heraus.

Ein erster Eindruck ist daher: Befreiung pur! Nicht nur, dass das Mädchen vor sich hin geht – ohne Ziel und Grund –, ihre Bewegungen werden mal ausladender, vor allem aber freier – losgelöst von irgendwelchen Formzwängen und Idealen. Das mag der*die ein oder andere deshalb befremdlich oder gar lächerlich finden.

Musik & Konsum

Gleichzeitig, wenn auch nur kurz, fragt man sich jedoch: Ist mein Fernseher kaputt? Wie das melancholische Mädchen nur Sekunden vorher ankündigt,

„Solange ich warte, kann ich meine aufgekratzte Seele mit ein bisschen Konsum beruhigen.”

Das melancholische Mädchen

begleiten wir, Zuschauende, das Bildspiel und spiegeln das Verhalten des Mädchens: Während wir ungeniert konsumieren, fragen wir uns, ob wir dies auch weiterhin können – eben auf dem sich gerade in Benutzung befindenden Endgerät.

Die Ambientsounds und die effektverstärkte Musik erzeugen eine Weite des Raums, der als Kulisse gar nicht vorhanden ist. Sie symbolisieren Weite und markieren doch die Leere des vorgeführten ‚Strands‘. Sogar das Gehen ohne Ziel und Grund verbildlicht gleichsam die ‚universelle Floskel’ des Antriebs: Weiter! Diese wird visuell in einem ‚Laufbandmodus’ sowie musikalisch in Peitschensamples aufgegriffen.

Unterscheidet sich das Mädchen durch ihre Melancholie zuletzt auch nicht von der Gesellschaft?

Ein nächster Eindruck: Sie, so wie wir, ist Sklave des Systems Konsum. Die Konsequenz erscheint da beinahe logisch, wenn das Filmbild in sich zusammenfällt. So werden die Schatten der Protagonistin zu Facetten ihrer Fassade, zur reinen Gleichförmigkeit. Die verzögerten Verschiebungen, die sie nebeneinander vervielfachen, wird zur vorab im Film besungenen Choreografie:

„Ich imitier’ mich selbst.”

Das melancholische Mädchen

Allerdings kreieren die flackernden Pixel und einbrechenden Klänge eine unkonventionelle Bildsprache und brechen mit einer vertrauten Filmästhetik sowie den Sehgewohnheiten. Auch wenn man gerade beim Anblick der langsam auseinanderbrechenden Szenerie normalerweise von Fehlern beim Abspielgerät oder Datenträger ausgehen würde; zeichnet sich u.a. das Wiegen der Palme vor dem Wallpaperhintergrund wie etwa Pinselstriche auf einem Acrylgemälde ab.

Kreative Filmkunst als Befreiung

Ein Fest der Dysfunktionalität! Im Film wird ‚Unnormales‘ nicht verbannt, sondern gerade auch dieses präsentiert: Was man vielleicht von Röhrenfernsehern als Bildversagen kennt, wird hier zur Neuschöpfung in der Kunst: Aus alt mach neu! Film kann eben kreativ und unerwartet sein.

So wie die Melancholie des Mädchens Symptome der Gesellschaft kontrastiert und damit verdeutlicht, führt auch die Bildlandschaft ein Bewusstsein herbei: Sie unterläuft die Logik einer klassischen (Film-)Emersion, indem sie sie transparent macht: Dem bereits als Wandbild aus der ersten Filmszene bekannten Hintergrund werden nach und nach Musik, Farbe, Licht, Effekt- und Animationstechnik zugefügt – von der bloßen Oberfläche zur vorgestellten Tiefe und Weite.

Hier zeigt sich die Befreiung durch und durch – auf und vor dem Bildschirm!

Fortsetzung folgt deshalb!

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Der Riss durch die Welt

Regie: Tilmann Kähler
Premiere: 8. November 2019
Uraufführung: München, Cuvilliéstheater
Autor: Roland Schimmelpfennig
Titel: »Der Riss durch die Welt. 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung«
Bilder und Trailer

 

Das Platzen von Sektgläsern in Dumpfheit – stumpfes Echo vervielfältigt den Knall und die dahinterliegende Stille. Neben den Gläsern sind es auch Stühle, die immer wieder geworfen werden und schellend am Boden aufkommen – leise, aber anhaltende Betretenheit erzeugen. Eine schwarze Kulisse aus Quadern markiert abstrakt einen Ankerpunkt für die sich angestaute und Bahn gebrochene Wut. Sie wird drehbares Hindernis und Mauer zwischen Paaren und Personen.

Schon der Titel verkündet einen „Riss“ – „den Riss durch die Welt“. Dabei spiegelt sich in der Inszenierung ein Spalt zwischen Meinungen, politischen Identitäten und Lebensentwürfen: Das milliardenschwere Paar, Tom und Sue, lädt eine Künstlerin in ihre ‚Hütte im Grünen‘ ein. Diese, Sophie, skizziert dabei wiederholt einen „Fluss“ mittels Sprache

„Ein ganzer Fluss aus Plastik und Metall und Öl. Ein sich bewegender Müllberg, eine brennende Müllwelle, die sich das Flussbett hinunter wälzt. Ein Riss. Eine klaffende Wunde. Der Riss durch die Welt. Tote Fische. Tote Vögel.“

Schimmelpfennig

als ein geplantes Kunstwerk in das Aufeinandertreffen der beiden Paare – Sophie ist mit ihrem Begleiter, Jared, angekommen.

Die Inszenierung schöpft die Bedeutung ihres Genres voll aus und erschafft Bilder aus ihrer textuellen Grundlage: Sie malt in die Köpfe des Publikums, was nirgends zu sehen – aber zu hören ist. Gerade diese ‚angeleiteten Fantasien‘ sind es, die in meinen Gedanken hängengeblieben sind:

Es ist diese, meine Erinnerung von irgendwoher, die ich auf der Bühne wiederfinde: Eine abschüssige Wiese, deren Ende so entfernt liegt, dass sie sich in den Morgennebel fädelt. Am rechten Rand flankieren schwarze, hohe Fichten einen fressenden Rehhals. Ohne Ursache schnellt dieser empor, sodass mich seine kalte Schnauze fixiert.

Diese ‚Bergoase‘ zerfetzt Schimmelpfennig im Verlauf des Theaterstücks.

Ein immer wieder tönendes Windspiel macht aus der Landschaft erst die Idylle – und es kündigt den dahinter liegenden Abgrund an: So sind es anfangs dessen sanft wiegenden Klänge, die die Figuren horchend innehalten lassen; im Verlauf ist es dann zunehmend dieses wiederkehrende Geräusch, dass Situationen unterbricht, Gespräche abreißt – zuletzt Angelpunkt der Wut ist. Im Kleinen wird hier deutlich, wie anhand des freien Spiels der Natur ein zuerst paradiesischer Sehnsuchtsort zum globalen Willen der Beherrschung wird.

Denn die Natur kann er nicht und doch will der Mensch sie beherrschen.

Im „Riss durch die Welt“ scheitern Beziehungen – zwischen Menschen, zunehmend aber auch zwischen Mensch und Tier sowie Mensch und Natur. Unausweichlich liegt dazwischen die Kunst. Als Trennung? Verbindung? Wie biblische Plagen prasseln die Eindrücke auf das Publikum nieder. Vereinzelte davon verwandeln sich aus Text in Bilder und sprengen das ‚erzählte Schauen‘ in die malerische Landschaft – durch fragmentarische Angstvisionen:

„Tom etwa bildet sich ein, von Fliegen aufgefressen zu werden, wie ein Stück Fleisch, das verwest. Seine Frau Sue erstickt fast an einem imaginierten Frosch im Mund, Jared kämpft wie wild mit einer Wespe. Das aufziehende Unwetter, der Hagelsturm, ein sterbendes Reh nachts in der Küche – die Zeichen, ob eingebildet oder echt, stehen auf Weltuntergang.“

SZ

Kunst präsentiert hier ihre sublime Wirkung:

Sie erweckt Sprache zu lebendigen Bildern und entlässt das Publikum mit Fragen im Magen und drückendem Gefühl auf der Zunge aus dem Saal. Dabei gibt die biblische Unterfütterung beinahe Orientierung, indem sie anhaltende Gültigkeit in den modernen menschengemachten Krisen offenbart: Die Folgen von Klimawandel und Gesellschaftszerfall erinnern an die biblischen Plagen. Kunstvoll brechen dabei Fragmente und surreale Momente in die inszenierte Wirklichkeit auf der Bühne ein: der „Riss“, der Untergang der Welt.

Auch die Sprechsituation läuft in die Linearität:

Nicht mehr anhand der Rollen lassen sich die Fäden der Schuld verknoten. Beinahe unbemerkt übertreten die Figuren ihre Grenzen, wiederholen Dialoge, imaginieren innerhalb dieser ein Gegenüber, erzählen sich als Figur selbst, spulen und wiederholen. Der Versuch des Festhaltens an Schleifen und Puzzleteilen scheitert an der Inszenierung, beim Festhalten fährt die Hand des Zusehenden durch das Nebulöse. Unsicherheit und Leere diffundieren durch die teils dynamisch-kreischenden und wieder zärtelnd-dösigen Momente, durch Oberfläche und Tiefgang, Musik und Szene.

Zuletzt beseitigt Haushälterin Maria, auf den Trümmern tanzend, die physischen Liegenschaften – vor allem gesprungenes Glas und Hagel. Ihre Figur spielt meist distanziert zu dem Geschehen der beiden Paare. Sie ist die einzige, die den „Riss durch die Welt“ nicht ‚bespielt‘, da sie die einzige ist, die von ihm durchdrungen ist: Sie ist Teil des Standes, dem sich Sophie und Jared erst zusprechen müssen und ihn als „Sklavenstand“ und „Ghetto“ der „herrschenden Klasse“ gegenüber stellen. Dabei ist es nicht Maria, die in den Händen der Ungleichheit zur wächsernen Spielfigur wird – es sind Sue, Sophie, Tom und Jared.

In Kählers Inszenierung wird der Untergang zu einem Untergang im Raum.

Nicht zu einem, wie wir ihn jetzt erleben, aber auch zu einer Generalprobe der Menschheit, in der im Angesicht einer Krise die Tragfähigkeit der Gesellschaft sowie der Zusammenhalt einer symbolischen Gruppe ausgetestet wird.

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Kultur – Grenzen sprengen

Seit dem 14. März haben alle öffentlichen Bibliotheken in Bayern geschlossen.

Dass ich einen Shutdown – auch einen der Kultur – je erleben würde, hätte ich wirklich nicht gedacht. Dass sich damit die Formen der Kunst erweitern könnten, auch nicht.

Auch wenn man durch die vielen Schließungen immer noch genervt ist, weil man die gewohnte Tageszeitung nicht mehr parat hat, weil man auf wichtige Präsenzbücher oder die Bib-Bubble verzichten muss, gibt es so viele Menschen, die es doch viel härter trifft: Denn die Lebens- und Arbeitssituationen von Kunstschaffenden sind leider meist heikel – jetzt noch viel mehr: Veranstaltungen fallen aus, werden auf unabsehbare Zeit verschoben, Künstler*innen können sich nur eingeschränkt präsentieren, erfahren nicht genug Aufmerksamkeit, auch das Publikum darf nicht mehr physisch anwesend sein, und und und …

Umso schöner ist es daher, dass so viele Menschen dafür kämpfen, Kunst und Kultur am Leben zu erhalten!

 

Maßnahmen holen die Kunst zurück und halten sie am Leben:

Kultur

Foto von Sebastian Voortman (Pexels)

Der Shutdown macht neue Formen der Kunst notwendig:

Digitales Theater, online-Literatur, Musik, Museen und weitere digitale Kunstangebote als Alternative.

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