Regie: Tilmann Kähler
Premiere: 8. November 2019
Uraufführung: München, Cuvilliéstheater
Autor: Roland Schimmelpfennig
Titel: »Der Riss durch die Welt. 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung«
Bilder und Trailer

 

Das Platzen von Sektgläsern in Dumpfheit – stumpfes Echo vervielfältigt den Knall und die dahinterliegende Stille. Neben den Gläsern sind es auch Stühle, die immer wieder geworfen werden und schellend am Boden aufkommen – leise, aber anhaltende Betretenheit erzeugen. Eine schwarze Kulisse aus Quadern markiert abstrakt einen Ankerpunkt für die sich angestaute und Bahn gebrochene Wut. Sie wird drehbares Hindernis und Mauer zwischen Paaren und Personen.

Schon der Titel verkündet einen „Riss“ – „den Riss durch die Welt“. Dabei spiegelt sich in der Inszenierung ein Spalt zwischen Meinungen, politischen Identitäten und Lebensentwürfen: Das milliardenschwere Paar, Tom und Sue, lädt eine Künstlerin in ihre ‚Hütte im Grünen‘ ein. Diese, Sophie, skizziert dabei wiederholt einen „Fluss“ mittels Sprache

„Ein ganzer Fluss aus Plastik und Metall und Öl. Ein sich bewegender Müllberg, eine brennende Müllwelle, die sich das Flussbett hinunter wälzt. Ein Riss. Eine klaffende Wunde. Der Riss durch die Welt. Tote Fische. Tote Vögel.“

Schimmelpfennig

als ein geplantes Kunstwerk in das Aufeinandertreffen der beiden Paare – Sophie ist mit ihrem Begleiter, Jared, angekommen.

Die Inszenierung schöpft die Bedeutung ihres Genres voll aus und erschafft Bilder aus ihrer textuellen Grundlage: Sie malt in die Köpfe des Publikums, was nirgends zu sehen – aber zu hören ist. Gerade diese ‚angeleiteten Fantasien‘ sind es, die in meinen Gedanken hängengeblieben sind:

Es ist diese, meine Erinnerung von irgendwoher, die ich auf der Bühne wiederfinde: Eine abschüssige Wiese, deren Ende so entfernt liegt, dass sie sich in den Morgennebel fädelt. Am rechten Rand flankieren schwarze, hohe Fichten einen fressenden Rehhals. Ohne Ursache schnellt dieser empor, sodass mich seine kalte Schnauze fixiert.

Diese ‚Bergoase‘ zerfetzt Schimmelpfennig im Verlauf des Theaterstücks.

Ein immer wieder tönendes Windspiel macht aus der Landschaft erst die Idylle – und es kündigt den dahinter liegenden Abgrund an: So sind es anfangs dessen sanft wiegenden Klänge, die die Figuren horchend innehalten lassen; im Verlauf ist es dann zunehmend dieses wiederkehrende Geräusch, dass Situationen unterbricht, Gespräche abreißt – zuletzt Angelpunkt der Wut ist. Im Kleinen wird hier deutlich, wie anhand des freien Spiels der Natur ein zuerst paradiesischer Sehnsuchtsort zum globalen Willen der Beherrschung wird.

Denn die Natur kann er nicht und doch will der Mensch sie beherrschen.

Im „Riss durch die Welt“ scheitern Beziehungen – zwischen Menschen, zunehmend aber auch zwischen Mensch und Tier sowie Mensch und Natur. Unausweichlich liegt dazwischen die Kunst. Als Trennung? Verbindung? Wie biblische Plagen prasseln die Eindrücke auf das Publikum nieder. Vereinzelte davon verwandeln sich aus Text in Bilder und sprengen das ‚erzählte Schauen‘ in die malerische Landschaft – durch fragmentarische Angstvisionen:

„Tom etwa bildet sich ein, von Fliegen aufgefressen zu werden, wie ein Stück Fleisch, das verwest. Seine Frau Sue erstickt fast an einem imaginierten Frosch im Mund, Jared kämpft wie wild mit einer Wespe. Das aufziehende Unwetter, der Hagelsturm, ein sterbendes Reh nachts in der Küche – die Zeichen, ob eingebildet oder echt, stehen auf Weltuntergang.“

SZ

Kunst präsentiert hier ihre sublime Wirkung:

Sie erweckt Sprache zu lebendigen Bildern und entlässt das Publikum mit Fragen im Magen und drückendem Gefühl auf der Zunge aus dem Saal. Dabei gibt die biblische Unterfütterung beinahe Orientierung, indem sie anhaltende Gültigkeit in den modernen menschengemachten Krisen offenbart: Die Folgen von Klimawandel und Gesellschaftszerfall erinnern an die biblischen Plagen. Kunstvoll brechen dabei Fragmente und surreale Momente in die inszenierte Wirklichkeit auf der Bühne ein: der „Riss“, der Untergang der Welt.

Auch die Sprechsituation läuft in die Linearität:

Nicht mehr anhand der Rollen lassen sich die Fäden der Schuld verknoten. Beinahe unbemerkt übertreten die Figuren ihre Grenzen, wiederholen Dialoge, imaginieren innerhalb dieser ein Gegenüber, erzählen sich als Figur selbst, spulen und wiederholen. Der Versuch des Festhaltens an Schleifen und Puzzleteilen scheitert an der Inszenierung, beim Festhalten fährt die Hand des Zusehenden durch das Nebulöse. Unsicherheit und Leere diffundieren durch die teils dynamisch-kreischenden und wieder zärtelnd-dösigen Momente, durch Oberfläche und Tiefgang, Musik und Szene.

Zuletzt beseitigt Haushälterin Maria, auf den Trümmern tanzend, die physischen Liegenschaften – vor allem gesprungenes Glas und Hagel. Ihre Figur spielt meist distanziert zu dem Geschehen der beiden Paare. Sie ist die einzige, die den „Riss durch die Welt“ nicht ‚bespielt‘, da sie die einzige ist, die von ihm durchdrungen ist: Sie ist Teil des Standes, dem sich Sophie und Jared erst zusprechen müssen und ihn als „Sklavenstand“ und „Ghetto“ der „herrschenden Klasse“ gegenüber stellen. Dabei ist es nicht Maria, die in den Händen der Ungleichheit zur wächsernen Spielfigur wird – es sind Sue, Sophie, Tom und Jared.

In Kählers Inszenierung wird der Untergang zu einem Untergang im Raum.

Nicht zu einem, wie wir ihn jetzt erleben, aber auch zu einer Generalprobe der Menschheit, in der im Angesicht einer Krise die Tragfähigkeit der Gesellschaft sowie der Zusammenhalt einer symbolischen Gruppe ausgetestet wird.

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