Kulissen, die die Welt bedeuten

Schlagwort: Kunst

»Das melancholische Mädchen«
I. Der Schluss zuerst

Titel: »Das melancholische Mädchen«
Schauspiel: Marie Rathscheck
Drehbuch & Regie: Susanne Heinrich
Produktion: Jana Kreissl
Kamera: Agnesh Pakodzi
Texte & Trailer


Die letzte Szene spiegelt in nuce den gesamten Film wider. Der Eindruck, der dabei entsteht, ist pure Ambivalenz! Die Szene irritiert und fasziniert. Das bleibt deshalb auch in meinem Text nicht unbemerkt.

Mädchen
Bild im Bild: Die Anfangsszene zeigt denselben Hintergrund wie die Schlussszene. Foto: SALZGEBER

In der letzten Einstellung läuft das melancholische Mädchen essend von rechts in die Mitte des Bildschirms. Ihre Schritte werden tänzelnder, mal macht sie sich klein, immer ist sie irgendwie in Bewegung und verdrückt ein Kugeleis.

Die Szenerie wird von Möwenrufen eingeleitet, die von Ambient-Techno-Synthies untermalt werden. Im Vordergrund hebt sich die Laufende ab, sodass auch die Palme der Hintergrundtapete irgendwann mitschwingt.

Eine Hymne auf die Gesellschaft“?

Das Bild wird zunehmend bunt, bemustert, alles bewegt sich, Percussion und Big Band mischen sich in die Klangkulisse, der Hintergrund, auf dem sich Kokosnussmuster in Orange abzeichnen, verwischt und Diskolichteffekte bereiten ein Bild vor, das sie durchbrechen: Hinter- und Vordergrund werden wechselseitig transparent und verschieben sich, sodass die Sicht teils an die eines Betrunkenen oder Kurzsichtigen erinnert. Das Mädchen wird so zu tausend essenden Versionen von sich – wie ein pastellener Schatten ihrer Bewegungen.

Alles bewegt sich, auch die Pixel beginnen, sich zu drehen, die Farbe zu wechseln und zu kunstförmig arrangierten ‚Ameisenhaufen‘ zu werden.

Das Mädchen läuft vor dem Pixelspektakel weiter und irgendwann, wenn melancholische Mädchen eben weiterziehen, aus dem linken Bildschirmrand heraus.

Ein erster Eindruck ist daher: Befreiung pur! Nicht nur, dass das Mädchen vor sich hin geht – ohne Ziel und Grund –, ihre Bewegungen werden mal ausladender, vor allem aber freier – losgelöst von irgendwelchen Formzwängen und Idealen. Das mag der*die ein oder andere deshalb befremdlich oder gar lächerlich finden.

Musik & Konsum

Gleichzeitig, wenn auch nur kurz, fragt man sich jedoch: Ist mein Fernseher kaputt? Wie das melancholische Mädchen nur Sekunden vorher ankündigt,

„Solange ich warte, kann ich meine aufgekratzte Seele mit ein bisschen Konsum beruhigen.“

Das melancholische Mädchen

begleiten wir, Zuschauende, das Bildspiel und spiegeln das Verhalten des Mädchens: Während wir ungeniert konsumieren, fragen wir uns, ob wir dies auch weiterhin können – eben auf dem sich gerade in Benutzung befindenden Endgerät.

Die Ambientsounds und die effektverstärkte Musik erzeugen eine Weite des Raums, der als Kulisse gar nicht vorhanden ist. Sie symbolisieren Weite und markieren doch die Leere des vorgeführten ‚Strands‘. Sogar das Gehen ohne Ziel und Grund verbildlicht gleichsam die ‚universelle Floskel‘ des Antriebs: Weiter! Diese wird visuell in einem ‚Laufbandmodus‘ sowie musikalisch in Peitschensamples aufgegriffen.

Unterscheidet sich das Mädchen durch ihre Melancholie zuletzt auch nicht von der Gesellschaft?

Ein nächster Eindruck: Sie, so wie wir, ist Sklave des Systems Konsum. Die Konsequenz erscheint da beinahe logisch, wenn das Filmbild in sich zusammenfällt. So werden die Schatten der Protagonistin zu Facetten ihrer Fassade, zur reinen Gleichförmigkeit. Die verzögerten Verschiebungen, die sie nebeneinander vervielfachen, wird zur vorab im Film besungenen Choreografie:

„Ich imitier‘ mich selbst.“

Das melancholische Mädchen

Allerdings kreieren die flackernden Pixel und einbrechenden Klänge eine unkonventionelle Bildsprache und brechen mit einer vertrauten Filmästhetik sowie den Sehgewohnheiten. Auch wenn man gerade beim Anblick der langsam auseinanderbrechenden Szenerie normalerweise von Fehlern beim Abspielgerät oder Datenträger ausgehen würde; zeichnet sich u.a. das Wiegen der Palme vor dem Wallpaperhintergrund wie etwa Pinselstriche auf einem Acrylgemälde ab.

Kreative Filmkunst als Befreiung

Ein Fest der Dysfunktionalität! Im Film wird ‚Unnormales‘ nicht verbannt, sondern gerade auch dieses präsentiert: Was man vielleicht von Röhrenfernsehern als Bildversagen kennt, wird hier zur Neuschöpfung in der Kunst: Aus alt mach neu! Film kann eben kreativ und unerwartet sein.

So wie die Melancholie des Mädchens Symptome der Gesellschaft kontrastiert und damit verdeutlicht, führt auch die Bildlandschaft ein Bewusstsein herbei: Sie unterläuft die Logik einer klassischen (Film-)Emersion, indem sie sie transparent macht: Dem bereits als Wandbild aus der ersten Filmszene bekannten Hintergrund werden nach und nach Musik, Farbe, Licht, Effekt- und Animationstechnik zugefügt – von der bloßen Oberfläche zur vorgestellten Tiefe und Weite.

Hier zeigt sich die Befreiung durch und durch – auf und vor dem Bildschirm!

Fortsetzung folgt deshalb!

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Der Riss durch die Welt

Regie: Tilmann Kähler
Premiere: 8. November 2019
Uraufführung: München, Cuvilliéstheater
Autor: Roland Schimmelpfennig
Titel: »Der Riss durch die Welt. 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung«
Bilder und Trailer

 

Das Platzen von Sektgläsern in Dumpfheit – stumpfes Echo vervielfältigt den Knall und die dahinterliegende Stille. Neben den Gläsern sind es auch Stühle, die immer wieder geworfen werden und schellend am Boden aufkommen – leise, aber anhaltende Betretenheit erzeugen. Eine schwarze Kulisse aus Quadern markiert abstrakt einen Ankerpunkt für die sich angestaute und Bahn gebrochene Wut. Sie wird drehbares Hindernis und Mauer zwischen Paaren und Personen.

Schon der Titel verkündet einen „Riss“ – „den Riss durch die Welt“. Dabei spiegelt sich in der Inszenierung ein Spalt zwischen Meinungen, politischen Identitäten und Lebensentwürfen: Das milliardenschwere Paar, Tom und Sue, lädt eine Künstlerin in ihre ‚Hütte im Grünen‘ ein. Diese, Sophie, skizziert dabei wiederholt einen „Fluss“ mittels Sprache

„Ein ganzer Fluss aus Plastik und Metall und Öl. Ein sich bewegender Müllberg, eine brennende Müllwelle, die sich das Flussbett hinunter wälzt. Ein Riss. Eine klaffende Wunde. Der Riss durch die Welt. Tote Fische. Tote Vögel.“

Schimmelpfennig

als ein geplantes Kunstwerk in das Aufeinandertreffen der beiden Paare – Sophie ist mit ihrem Begleiter, Jared, angekommen.

Die Inszenierung schöpft die Bedeutung ihres Genres voll aus und erschafft Bilder aus ihrer textuellen Grundlage: Sie malt in die Köpfe des Publikums, was nirgends zu sehen – aber zu hören ist. Gerade diese ‚angeleiteten Fantasien‘ sind es, die in meinen Gedanken hängengeblieben sind:

Es ist diese, meine Erinnerung von irgendwoher, die ich auf der Bühne wiederfinde: Eine abschüssige Wiese, deren Ende so entfernt liegt, dass sie sich in den Morgennebel fädelt. Am rechten Rand flankieren schwarze, hohe Fichten einen fressenden Rehhals. Ohne Ursache schnellt dieser empor, sodass mich seine kalte Schnauze fixiert.

Diese ‚Bergoase‘ zerfetzt Schimmelpfennig im Verlauf des Theaterstücks.

Ein immer wieder tönendes Windspiel macht aus der Landschaft erst die Idylle – und es kündigt den dahinter liegenden Abgrund an: So sind es anfangs dessen sanft wiegenden Klänge, die die Figuren horchend innehalten lassen; im Verlauf ist es dann zunehmend dieses wiederkehrende Geräusch, dass Situationen unterbricht, Gespräche abreißt – zuletzt Angelpunkt der Wut ist. Im Kleinen wird hier deutlich, wie anhand des freien Spiels der Natur ein zuerst paradiesischer Sehnsuchtsort zum globalen Willen der Beherrschung wird.

Denn die Natur kann er nicht und doch will der Mensch sie beherrschen.

Im „Riss durch die Welt“ scheitern Beziehungen – zwischen Menschen, zunehmend aber auch zwischen Mensch und Tier sowie Mensch und Natur. Unausweichlich liegt dazwischen die Kunst. Als Trennung? Verbindung? Wie biblische Plagen prasseln die Eindrücke auf das Publikum nieder. Vereinzelte davon verwandeln sich aus Text in Bilder und sprengen das ‚erzählte Schauen‘ in die malerische Landschaft – durch fragmentarische Angstvisionen:

„Tom etwa bildet sich ein, von Fliegen aufgefressen zu werden, wie ein Stück Fleisch, das verwest. Seine Frau Sue erstickt fast an einem imaginierten Frosch im Mund, Jared kämpft wie wild mit einer Wespe. Das aufziehende Unwetter, der Hagelsturm, ein sterbendes Reh nachts in der Küche – die Zeichen, ob eingebildet oder echt, stehen auf Weltuntergang.“

SZ

Kunst präsentiert hier ihre sublime Wirkung:

Sie erweckt Sprache zu lebendigen Bildern und entlässt das Publikum mit Fragen im Magen und drückendem Gefühl auf der Zunge aus dem Saal. Dabei gibt die biblische Unterfütterung beinahe Orientierung, indem sie anhaltende Gültigkeit in den modernen menschengemachten Krisen offenbart: Die Folgen von Klimawandel und Gesellschaftszerfall erinnern an die biblischen Plagen. Kunstvoll brechen dabei Fragmente und surreale Momente in die inszenierte Wirklichkeit auf der Bühne ein: der „Riss“, der Untergang der Welt.

Auch die Sprechsituation läuft in die Linearität:

Nicht mehr anhand der Rollen lassen sich die Fäden der Schuld verknoten. Beinahe unbemerkt übertreten die Figuren ihre Grenzen, wiederholen Dialoge, imaginieren innerhalb dieser ein Gegenüber, erzählen sich als Figur selbst, spulen und wiederholen. Der Versuch des Festhaltens an Schleifen und Puzzleteilen scheitert an der Inszenierung, beim Festhalten fährt die Hand des Zusehenden durch das Nebulöse. Unsicherheit und Leere diffundieren durch die teils dynamisch-kreischenden und wieder zärtelnd-dösigen Momente, durch Oberfläche und Tiefgang, Musik und Szene.

Zuletzt beseitigt Haushälterin Maria, auf den Trümmern tanzend, die physischen Liegenschaften – vor allem gesprungenes Glas und Hagel. Ihre Figur spielt meist distanziert zu dem Geschehen der beiden Paare. Sie ist die einzige, die den „Riss durch die Welt“ nicht ‚bespielt‘, da sie die einzige ist, die von ihm durchdrungen ist: Sie ist Teil des Standes, dem sich Sophie und Jared erst zusprechen müssen und ihn als „Sklavenstand“ und „Ghetto“ der „herrschenden Klasse“ gegenüber stellen. Dabei ist es nicht Maria, die in den Händen der Ungleichheit zur wächsernen Spielfigur wird – es sind Sue, Sophie, Tom und Jared.

In Kählers Inszenierung wird der Untergang zu einem Untergang im Raum.

Nicht zu einem, wie wir ihn jetzt erleben, aber auch zu einer Generalprobe der Menschheit, in der im Angesicht einer Krise die Tragfähigkeit der Gesellschaft sowie der Zusammenhalt einer symbolischen Gruppe ausgetestet wird.

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